Der Reitwagen 1986 - Rot und Rar - Honda XR 600 R



Die Musik aus dem Auspuff nervt andere Leute und damit bleibt die Sportenduro in den Lärmbestimmungen für die Saison 1987 hängen.

Sollte es tatsächlich dabei bleiben, wird man mit den XRs der Jahrgänge '85 und '86 sehr respektable Gebrauchtpreise erzielen können, weil wir ja immer haben möchten, was wir eigentlich nicht bekommen können.


Die 86er-Serie verbirgt keine Sensation in sich, sondern wurde in drei technischen Details geringfügig abgeändert.

Besitzer von 85er-Modellen dürfen also ruhig schlafen, ihnen entgeht so gut wie nichts, wenn sie den Modellwechsel nicht mitspielen.

Neben der oberen Motoraufhängung, die verstärkt wurde und nun Zylinder und Rahmenrückgrat der neuen XR solider

als im Vorjahr verbindet, sind kleine der Änderungen im Brennraum des Radial-Vierventilers zu finden,

denen die japanische Neigung zu konstruktiver Konsequenz

anzusehen ist.

Während im 85er-Modell der Zylinderkopf der XL 600 - Serie verwendet wurde, dessen Gußform sich seit 1983 praktisch nicht verändert hat und an dem der Einbau eines Dekompressionsventils vorgesehen ist, ändert verschwand die immerhin 2 ccm große Ausnehmung für das zusätzliche Ventil im Kopf der 86er XR.

Durch die Vergrösserung des Brennraum-Durchmessers um 5 mm blieb die Verdichtung dennoch unverändert.

Leistungssteigerer werden sich über die technisch sauberere Lösung freuen, am Leistungsverhalten ändert diese aber nichts.


 

Der Brennraum des XR-Motors wurde zur sauberen Kalottenform
modifiziert.

Nach wie vor tritt der kurzhubige Hondamotor aus niedersten Drehzahlen auf die Vier immer so stolz sind.

Ein struktionsmaßnahmetaktbesitzer wenig ruppig, aber noch ausreichend kräftig an.

Sein günstigster Arbeitsbereich beginnt ab etwa 3.000 U/min-1.

Spontan und direkt beantwortet jetzt der Einzylinder jede Drehbewegung des Gasgriffes.

In der Reaktionsfreudigkeit und im raschen Hochdrehen aus der Drehzahlmitte liegen die Vorzüge des XR-Motors, dem andererseits untertouriger Betrieb ebensowenig liegt, wie starkes Überdrehen.

Nach Erreichen der Nenndrehzahl von 6.500 min-1 macht die Honda noch ein wenig weiter, läßt dann aber die Leistung so rapide abfalllen, daß der Schaltpunkt auch ohne Drehzahlmesser

unmißverständlich gefunden wird.

An Getriebe und Kupplung sind nach wie vor keine Fehler in Abstimmung und Arbeitsweise zu finden: leichtgängig, kurz, exakt, japanisch.

Das Startverhalten des 591 ccm großen Singles ist so problemlos, wie es der derzeitige technische Standard einzylindriger Sportmotor, dernach dem Viertaktprinzip arbeitet zuläßt.

In heißem Betriebs springt die XR unter geringem Kraftaufwand und ohne Tüfteleien am Gasgriff sofort an.

Auch der kalte Motor läßt sich mit Choke-Unterstützung nach zwei bis drei Versuchen zuverlässig in Gang bringen.

Wie bei großen Töpfen üblich, sollte der erst halbwarme XR nicht des Zündstromes beraubt werden, aber man sammelt schnell schweißträchtige Erfahrung:

Gasgriff zu drei Vierteln offen, und ohe Choke mit aller Gewalt in den Kickstarter - das hilft.



Sensibler Ausheber: die Enduro-Scheibenbremse von Honda bleibt in Führung.



Kaum geändert geht das hohe, geftdrungene Fahrwerk der XR in den Jahrgang ´86 über.

Im Pro-link-System der neuen XR 600 R wurde der Umlenk um 2 mm verlängert, was dem Hinterrad 2 cm mehr Federweg ein bringt.

Die Charakteristik des Zentralfederbeins das in

Federvorspannung, Dämpferzug- und Druckstufe abstimmbar ist, entspricht wie schon im Vorjahr Durchschnittsbedürfnissen.

Wettbewerbsfahrer können mit den weichen Abstimmungsstufen nichts anfangen und selbst bei maximaler Vorspannung wird der Monoshock unter schnellen Piloten rasch überfordert.

Mit skandinavischen Nachrüstprodukten ist man im Rennen besser dran.

Die vielleicht beste Endurogabel führt das Vorderrad der Honda XR.

Mit 43 mm Holmdurchmesser gibt es keine Stabilitätsprobleme und das direkte und ruckfreie Ansprechen

auf kleine Bodenunebenheiten, das Endurofahrer unter schwierigen Stredkenverhältnissen brauchen, wie einen Bissen Brot, beherrscht die XR-Gabel vorbildhaft.

Diese Eigenschaft sollte man sich nicht mit Gasdruck-Experimenten in den Holmen zerstören, nur weil die

sensible Gabel zwangsläufig weich wirkt.

Wer ernsthaften Cross-Sport mit der XR betreiben will, kann ja immer noch zu einer CR-Gabel greifen.

Die Fahrwerksgeometrie der XR 600 R empfinden Fahrer europäischer Fabrika als etwas ungewöhnlich, macht das

Motorrad aber in engen Streckenabteschnitten sehr wendig und kontrollierbar.

Die Honda läßt sich widerstandslos in schmale Anlieger führen und bei Bedarf vorzeitig mit Kupplungshilfe herausreißen.

Untersteuern gibts nicht.

An extrem schnelle Wellenpassagen muß vorsichtiger herangegangen werden, da einmal eingeleitete Querschläge durch die Kürze des XR-Fahrwerks hart ausfallen

und nicht so leicht zu korrigieren sind.

In diesem Zusammenhang ist nicht ganz einzusehen,

warum Honda am 17er-Hinterrad festhält, das kaum technische Vorteile schaff, aber andererseits die Reifenauswahl einschränkt.

Die Vorderbremse der Honda mit dem standardgemäßen

Doppelkolbensattel hat die Konkurrenz schon im letzten Jahr hinter sich gelassen und muß ihre Position auch heuer nicht räumen.


Die Scheibenbremse baut nicht nur sehr kompakt und leicht, sondern wirft dich auch unter dem Druck von zwei Fingern

über den Lenker.

Druck- und Blockierpunkt werden von der stabilen Stahl Bremsleitung direkt und nicht zu elastisch an den Bremshebel weitergegeben.

Die im Hinterrad verwendete Trommelbremse kann das Niveau der Scheibe nicht halten, ist aber ausreichend leistungsfähig und ebensowenig hinterhältig im Ansprechverhalten.

Sehr hoch liegt für die Konkurrenz auch die Latte, wenn man die Fertigungs- und Zubehörqualität zum Vergleich heranzieht.
Die Honda XR macht den Eindruck geradezu unverschämt guter Verarbeitung.

Es sitzt und paßt einfach alles, vom leichtgängigen Tank bis zum exzentrischen Kettenspanner.

Die unwürdigsten Zubehörteile kommen aus der Heimat und wurden Honda Austria vom Gesetzgeber aufgebrummt:

Rückspiegel, Blinker, eine wirklich unmögliche Kotflügelverlängerung, Trockenbatterie und XL Scheinwerfer, schreien direkt nach Demontage, entweder durch Hand oder durch Stern, je nach dem.

Die Amerikaner, für die die XR in erster Linie gebaut wird, sind dem Ideenreichtum sachverständiger Gesetzgeber weniger ausgeliefert und sparen damit Geld und gut 5 kg Gewicht ein.

Dort hat Honda die Perfektion und auch das Allround-Konzept der XR her.

Die Amis schrauben nicht, sondern fahren, Vormittags zum Drugstore, mittags zu McOonalds, abends ins Kino und am Wochenende will jeder der Schnellste quer durch die Mojave-Wüste oder zumindest nicht der Letzte im Blackwater Enduro sein.



Andreas Werth